Ausstellung

WERNER CASTY: IM GRAFIT
2.07.2022 - 16.07.2022

Finissage: Samstag, 16. Juli 2022, 14 bis 16 Uhr

Werner Casty – Im Grafit
Fasste ich schliesslich Tritt
auf einem überspülten Felsen
und zog mich am ersten Griff
aus dem Wolkenspiegel
Christoph Ransmayr, «Der Fliegende Berg»

Die Alpen kamen aus der Öffnung des Meeres. Platten brachen, drehten sich, stiessen aneinander. Die Bewegung verschob, stapelte, faltete das Gemenge. Neues Gestein entstand. Doch auch wenn sich die Gipfel viertausend Meter vom Wasser entfernten, blieben sie doch mit ihm verbunden. Der Meeresspiegel ist die Referenz, wenn wir in die Höhe steigen oder in die Tiefe tauchen. So erstaunt es nicht weiter, dass im Werk von Werner Casty zwischen hochalpinem Geröll und Schneedecken die Wellen branden.

Der Künstler, aufgewachsen in Graubünden und heute im Zürcher Oberland wohnhaft, bewegt sich regelmässig zwischen dem Festen und dem Flüssigen. In der Ausstellung bei Sam Scherrer sind es der Stein und das Wasser am Berg. Werner Casty geht gerne hoch hinauf, dorthin, wo die Landschaft mineralisch wird, das Licht gleissend und der Wind kälter. Davon zeugt die Werkgruppe «Fess», die aus seinen Touren in den Adula-Alpen hervorgegangen ist. Der Name des Piz Fess bedeutet «gespalten». Und so sehen wir das Gelände auch in Werner Castys Zeichnungen: graue Schieferplatten, zerlegt und übereinandergeschichtet, aufgebrochen in unzählige Steinscherben. Doch das Wasser ist nicht weit. In der zweiten Werkgruppe «Bergwasser» drückt es aus dem Fels. Sprudelnd fliesst es den Hang hinab, die Salze aus den Böden und Gesteinsschichten mit sich tragend, bis zum Meer.

Werner Casty ist ein Zeichner. Seine Bilder sind Welten aus Schattierungen. Sie abstrahieren die Landschaft und zeigen sie in einem Spektrum von Weiss bis Schwarz. Er benutzt zwei Härtegrade des Grafits, eine weiche B- und eine festere H-Stärke. Mit diesem aus dem Stein gewonnenen Zeichenmittel lässt er das Geröll in allen Grautönen changieren. Das weisse Papier wirkt als Weissraum mit. Es wird zur Schneedecke, die sich mit dem dunklen Grund abwechselt, zu leuchtend brausendem Wasser, das die Steine dunkel färbt oder zur Gischt, durch deren Sprühnebel alles weich und grau erscheint.

Die Zeichnungen machen deutlich, wie vertraut Werner Casty mit seinen Motiven ist. Sie sind äusserst genau wiedergegeben. Doch tragen sie nicht die Handschrift eines Wissenschaftlers. Weder zeigen sie den Überblick im Gebirgspanorama noch den Aufbau eines Gesteins in der Nahsicht. Vielmehr vermitteln sie den Eindruck einer Bewegung. «Es ist, als würde ich beim Gehen im Gebirge alles aus dem Seitenblick wahrnehmen», sagt Werner Casty. Genau diese Beiläufigkeit strahlen die Bilder aus. Es sind Ausschnitte aus der Perspektive des Gehenden. Ein Blick schräg nach unten, immer auch den nächsten Schritt prüfend, eine abschüssige Stelle registrierend, einen wackeligen Stein, eine Spalte. Ein kurzer Blick nach oben, aber nicht zu weit, will er sich den Nacken nicht verspannen.

Am liebsten ist Werner Casty tagelang unterwegs. So kann er seinen Rhythmus finden und alle Ablenkungen hinter sich lassen. Gehend kehrt er in sich ein. Die lineare Zeit ist nur noch vorhanden im Takt der Schritte, im Strömen der Atmung oder im pochenden Puls im Ohr. Der Raum spannt sich auf, lässt ihn kleiner werden und zugleich an einem grösseren Ganzen teilhaben. Es ist ein Zustand, den der Künstler sowohl im Gehen in der Landschaft als auch im Zeichnen in seinem Atelier sucht.

Nur ab und zu unterbricht Werner Casty seinen Gang und zückt seine Kamera oder seinen Zeichenstift, um etwas festzuhalten. Seine Skizzen falten sich ein in kleine Leporellos. Seine Fotografien wird er erst nach seiner Rückkehr sehen. Sie bleiben im Gehäuse der Kleinbildkamera verborgen wie in einer Schatulle. Eingefangene Augenblicke aus der kontinuierlichen Bewegung seiner Schritte. Er arbeitet analog mit begrenztem Fassungsvermögen. Die Fotografie soll ihn nicht umtreiben. In der Dunkelkammer werden sie sichtbar, bevor sie im Archiv wieder verschwinden. Dort verbleiben sie manchmal mehrere Jahre, bis er sie herauszieht für eine neue Werkserie.

Dann begibt sich der Künstler im Lichtstrahl des Projektors noch einmal auf Wanderung. Diesmal mit der Hand. Strich für Strich geht er voran. Über Tage und Wochen folgt er den Umrisslinien, den Schatten und den Sonnenflecken. Er zieht, schraffiert, lässt aus. Der Grafit rieselt in die Papierporen, lagert sich ab, verdichtet sich, wird dort hart und glänzend, wo er mit viel Druck aufgetragen ist. Wieder, nun nicht gehend, sondern zeichnend, gerät er in den meditativen Fluss. Nun vollzieht die Hand die sich wiederholenden Bewegungen, während die Füsse im abgedunkelten Raum ruhen. Werner Casty ist im Grafit, diesmal im Papier, auch hier ohne Überblick. Erst zum Schluss wird er heraustreten und das ganze Bild sehen.

Mit der Distanz verwandelt sich die Zeichnung. Erkennen wir aus der Nähe ihren Grafitstrich, scheint sie in der Ferne zur Fotografie zu werden, als würde sie durchs Entwicklerbad gezogen. Die Verwandlung fasziniert, da sich zwei verschiedene Techniken in einem Werk vereinen. Der Ausschnitt zeigt den Augenblick, den die Fotografie festgehalten hat, doch wird dieser im langsamen Zeichnungsprozess gedehnt und in eine neue Wirklichkeit überführt. In der Materialität der Zeichnung erhält der Augenblick einen Körper. Doch gleichzeitig exponiert Werner Casty fotografische Eigenschaften bis zur Abstraktion und stellt damit ihr «Es-ist-so-gewesen» in Frage. Unschärfe und Überbelichtungen lassen das Bild verschwimmen oder löschen es stellenweise ganz aus. Das Feste und das Flüssige erhalten hier noch einmal eine andere Dimension.

Den beiden grossen Werkgruppen «Fess» und «Bergwasser» sind in der Ausstellung kleine Skizzen hinzugefügt. Es scheint, dass es nun auch die farbigen Blumen, die aus dem kargen Boden spriessen, geschafft haben, den Seitenblick von Werner Casty auf sich zu ziehen. Wie sie bei ihm wachsen werden, das ist noch offen.
Meret Arnold, Kunsthistorikerin, Mai 2022

 

Finissage: Samstag, 16. Juli 2022, 14 bis 16 Uhr

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Fess 1, 2022, Grafit auf Papier auf MDF, 34 x 49 cm
Bergwasser 2, 2021, Grafit auf Papier, 95.5 x 112 cm
Fess 2, 2022, Grafit auf Papier auf MDF, 49 x 34 cm
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Bergwasser 5, 2022, Grafit auf Papier, 64 x 84 cm

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