Ausstellung

IRENE WEINGARTNER: SIGNALPROZESSOR
28.05.2022 - 12.06.2022

Führung durch die Ausstellung:
Samstag, 11. Juni 2022, um 14 Uhr

Die seismographischen Netze der Spider-Woman
Einzelne Werke von Irene Weingartner erinnern an Visualisierungen von Blutkreisläufen und Nervensystemen, andere lassen an Vogelschwärme denken. Dort werden Eisenspäne und Nadeln mehreren Magnetfeldern ausgesetzt, hier glaubt man, eine Sternkarte vor sich aufgerollt zu sehen, worauf vektorartig Verbindungslinien von Sternbildern eingezeichnet sind. Werden formale Vergleiche mit der Kunst angestellt, erscheinen auf dem Radar die Drip Paintings von Jackson Pollock, das Strich-Gestrüpp von Cy Twombly, die Netze von Tomás Saraceno, aber auch kinetische Architekturskelette.
Das innere Auge spielt Sequenzen aus dem Science-Fiction-Film «Fantastic Voyage» ab. All diese Vergleiche bilden indes Krücken für die Beschreibung. Die Zeichnungen Weingartners besitzen eine unverwechselbare Handschrift.

Die Arbeitswerkzeuge der Künstlerin bilden spitze Bleistifte, Tusche und scharfe Klingenmesser, wobei sie, basierend auf einer Corporate Language, von Skalpell spricht. Als Material wird (Transparent-)Papier verwendet. Ihr Arbeitsplatz ist ein Architektentisch, den sie einst als Hochbauzeichnerin nutzte. Vermehrt transformiert sie Zeichnungen in chabasit-ca-förmige Skulpturen. In ihrer jüngsten Werkserie baut sie aus Balsaholz-Stäbchen Modelle, bestreicht diese mit Kontrastmittel und lässt sie von einem Computertomographen scannen. Während andere Künstler durch das Elektronenmikroskop erfassbare Corona-Viren knallbunt für die Medien aufbereiten, setzt Weingartner Farben dezent ein.

Seit 2007 bezeichnet Weingartner ihre Arbeiten als «seismographische Aufzeichnungen», sie selbst sieht sich als «Aufzeichnungsmaschine», billigt aber ihrem Schaffen «ästhetische Eingriffe» zu. Die Titelgebung haben Rezensenten dankbar aufgegriffen und Überlegungen zum Menschen als Maschine angestellt, der innere Impulse auf Zeichenpapier überträgt. Als Metapher ist der Seismograph längst etabliert. 2012 erschien Uwe Fleckners Textsammlung «Der Künstler als Seismograph». 1996 sah sich die sechste internationale Architekturausstellung in Venedig als «Sensori del futuro. L’architetto come sismografo». Künstler versuchen seit jeher, Gemütszustände, ja den Charakter eines Menschen darzustellen. Wegweisend waren Charles Le Brun mit «Méthode pour apprendre à dessiner les passions» oder Johann Caspar Lavater mit seinen «Physiognomischen Fragmenten». Während Alchemie bei einem Naturwissenschaftler als Sakrileg gilt, ist sie bei einem Künstler geradezu erwünscht. «Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!» lautet ein bekanntes Werk von Sigmar Polke.

Weingartner als Automaten – Was ist davon zu halten? Eine beklemmende Vorstellung. Nicht einmal als Metapher würden wir dies gelten lassen. Die Künstlerin ist während des Schaffensprozesses weder an einen Seismographen angeschlossen, noch sind ihre Arbeiten das Resultat der Daten eines Elektrokardiogramms, Lügendetektors, Blutdruck- oder Blutzuckergeräts. Weder ist sie das roboterhafte Medium von Erschütterungen noch das Sprachrohr göttlicher Stimmen. Wie Inspiration in der bildenden Kunst funktioniert, beschrieb mustergültig Ernst H. Gombrich in «Kunst und Illusion». Die inneren Eruptionen lassen sich nicht dechiffrieren.

«There will be an earthquake – they say» lautet die Prognose einer Zeichnung. Wir wünschen uns, dass die Magnitude in den weingartnerschen Aufzeichnungen Höchstwerte erreicht, sich die Kontinentalplatten weiter verschieben, Erdbeben grollen, Tsunamis die Zeichenpapiere und Modelle fluten und ihr Monte Verità glühende Lava ausspeit.
Gabriel Katzenstein, Kunsthistoriker, Zürich, im April 2022

Führung durch die Ausstellung:
Samstag, 11. Juni 2022, um 14 Uhr

Finissage & Gallery Weekend Zürich:
Samstag, 11. Juni 2022, 14 – 16 Uhr, Führung um 14 Uhr
Sonntag, 12. Juni 2022, 14 – 16 Uhr

IRENE WEINGARTNER, Layered Spaces VII, Aquarell auf Paper mit Cutout; Tusche auf Transparentpapier, 40 x 40 cm, 2021, Ausschnitt
IRENE WEINGARTNER, There will be an Earthquake – they say, Bleistift auf Papier, 29,5 x 21 cm, 2020
IRENE WEINGARTNER, Architektonische Struktur XVI, Cutout; Tusche auf Transparentpapier, 26 x 40 cm, 2019, Seitenansicht
IRENE WEINGARTNER, Neutron IX , 30 x 30 cm, Tusche auf Papier mit Cutout: Tusche auf Transparentpapier, 2020
IRENE WEINGARTNER, Neutron IX , 30 x 30 cm, Tusche auf Papier mit Cutout: Tusche auf Transparentpapier, 2020, Seitenansicht
IRENE WEINGARTNER, Modell 4 (3. Version), Balsaholz, Tusche, B:33 x T:24 x H:22 cm, 2021
IRENE WEINGARTNER, Ausstellungsansicht: Zetral! Kunstmuseum Luzern, 2021-22, Foto: Franca Pedrazzetti, Luzern
IRENE WEINGARTNER, Ausstellungsansicht: Gulliver´s Sketchbook, Kai 10 Arthena Foundation, Düsseldorf 2022, Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf

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